Reimund Böse & Günter Schiepek (1994): Systemische Theorie und Therapie. Ein Handwörterbuch.

Rezension von Peter M. Glatzel

Während etwa Psychoanalyse und Verhaltenstherapie heute als mehr oder weniger wissenschaftlich fundierte Therapiemethoden gelten (Grawe et al., 1994), ist die Systemische Therapie (im folgenden mit ST abgekürzt) ein relativ junges Verfahren, das den Status einer etablierten Methode noch nicht erreicht hat. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – erfreut sie sich bei den psychotherapeutischen Praktikern/innen eines zunehmenden Interesses. Im universitären Bereich dagegen wird sie bisher kaum zur Kenntnis genommen, was teilweise damit zusammenhängt, daß die Lehrstühle der Klinischen Psychologie in Deutschland zumeist mit Verhaltenstherapeuten und die der Psychosomatik immer noch mit Psychoanalytikern besetzt sind. Obwohl die Bedeutung der Systemtheorie für die Psychologie schon früh erkannt wurde (vgl. die Übersicht Bertalanffys, 1968, S. 205-221), scheint das vom systemischen Ansatz geforderte und in der ST auch realisierte Denken in größeren Zusammenhängen dem individuumzentrierten Denken der traditionellen Psychotherapien und der psychologischen Wissenschaft überhaupt entgegenzustehen. Nicht zu Unrecht meinte Eckensberger (1978) deshalb in der Diskussion der "ökopsychologischen" Sichtweise (die ja nichts anderes als eine systemische ist), sie impliziere einen "grundsätzlichen Wechsel" der Modelle vom Menschen, würde eine "immense Veränderung" für die psychologische Theorienbildung und Forschung bedeuten und zu einer in mancher Hinsicht völlig neuen Terminologie führen.

Aus der systemisch-konstruktivistischen Sicht der ST stellt sich das Ganze einfacher dar, denn die aus kybernetischen und systemtheoretischen Konzepten entwickelte Theorie der ST verfügt bereits über entsprechende Modelle und eine geeignete Terminologie. Es bedarf hier oft nur eines Perspektivenwechsels, um vorhandene psychologische Theorien, Forschungsmethoden und -ergebnisse für das Verständnis psychischer und psychosozialer Prozesse weiter nutzen zu können. Das ist z. B. für die klinische Psychologie (Schiepek, 1991), die noch ausstehende wissenschaftliche Evaluation der ST (Schiepek, 1994) und die Integration psychotherapeutischer Methoden (Glatzel, 1995) gezeigt worden. Ein solcher Perspektivenwechsel setzt relativ umfassende Kenntnisse der Grundlagen des systemischen Denkens voraus. Das Handwörterbuch von Böse & Schiepek kann bei der Aneignung und Vertiefung dieser Kenntnisse eine wertvolle Hilfe sein. Indem es die zentralen Konzepte und Begriffe der ST beschreibt und in den entsprechenden größeren epistemologischen und systemtheoretischen Kontext stellt, leistet es einen wesentlichen Beitrag zur Präzisierung der systemtherapeutischen Terminologie, aber auch zur allgemeinen Anwendung systemtheoretischer Konzepte in der Psychotherapie und psychosozialen Beratung.

Das Buch umfaßt 261 Seiten und enthält 23 Abbildungen. Nach einer Anleitung zur Lektüre und der Inhaltsübersicht geben die Autoren eine Einführung in die Grundlagen der ST. Dabei beschäftigen sie sich u. a. mit deren radikal konstruktivistischer Ausgangsposition und dem Problem der Übernahme von Begriffen aus anderen Wissensgebieten in den psychologischen und psychosozialen Bereich. Anschließend werden 61 Stichwörter in alphabetischer Reihenfolge auf jeweils 1 bis 10 Seiten abgehandelt: von "Autonomie" und "Autopoiese", über "Macht und Kontrolle", "Systemische Methodologie" und "Systemische Therapie", bis hin zu "Verstörung" und "Ziele". Die Thematik dieser Sachartikel kann vom Leser/von der Leserin bei Bedarf mit Hilfe der zahlreichen Querverweise vertieft und erweitert werden. Alle Sachartikel schließen mit weiterführenden Literaturhinweisen. Am Ende des Buches findet man außerdem ein Gesamtverzeichnis der zitierten Literatur, gefolgt von einem detaillierten Sachregister, das auch jene Begriffe und Themen schnell aufzufinden gestattet, die im Inhaltsverzeichnis nicht genannt werden. Das Namenregister am Schluß des Buches eröffnet einen weiteren Zugang zu den Konzepten, die ja – gerade aus konstruktivistischer Sicht – ohnehin immer autorenabhängig sind.

Wer ein Nachschlagewerk sucht, in dem die epistemologischen und systemtheoretischen Grundlagen der modernen ST fundiert, differenziert und durchaus kritisch beschrieben werden, ist mit dem Handwörterbuch von Böse & Schiepek gut beraten. Dem/der systemisch interessierten Wissenschaftler/in (aber auch dem/der Studierenden) gibt es als umfassendes und klar durchstrukturiertes Kompendium einen ausgezeichneten Überblick über den derzeitigen Stand der systemischen Sichtweise. Systemtherapeutischen Praktikern/innen hilft es, ihre theoretischen Kenntnisse aufzufrischen und zu vertiefen. Unklar bleibt allerdings, weshalb die Autoren einerseits mehrfach den interdisziplinären Charakter des systemischen Denkens betonen (S. 6, 41, 221), andererseits aber Begriffe wie "Psychotherapie" oder "psychische Störung/Krankheit" weder im Inhaltsverzeichnis noch im Sachregister berücksichtigen. Auch wenn solche Begriffe in der ST selbst eine untergeordnete Rolle spielen, handelt es sich nach allgemeinem Verständnis um für das Thema "Therapie" zentrale Leitbegriffe. Hier hätte man jenen Interessenten, die mit dem systemischen Ansatz nicht vertraut sind, das Zurechtfinden erleichtern können. Trotzdem gibt es zu diesem nach wie vor aktuellen Handwörterbuch, das eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis herzustellen versucht, derzeit keine Alternative.

 

Literatur

 

Bertalanffy, L. v. (1968): General System Theory. Foundations, Development, Applications. New York: Braziller, 1969.

Eckensberger, L. H. (1978): Die Grenzen des ökologischen Ansatzes in der Psychologie. In: Graumann, C. F., Hrsg.: Ökologische Perspektiven in der Psychologie. Bern, Stuttgart, Wien: Huber. S. 49-76.

Glatzel, P. M. (1995): Allgemeine Systemtherapie. Überlegungen zu einer universellen Therapietheorie und ihrer Anwendung auf die psychotherapeutische Praxis. Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie 63, S. 49-58.

Grawe, K., Donati, R., Bernauer, F. (1994): Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe.

Schiepek, G. (1991): Systemtheorie der Klinischen Psychologie. Braunschweig: Vieweg.

Schiepek, G. (1994): Ist eine systemische Therapieforschung möglich? Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie 42, S. 297-318.

Reimund Böse & Günter Schiepek:

Systemische Theorie und Therapie.
Ein Handwörterbuch.

Heidelberg: Roland Asanger Verlag, 1989, 2. unveränderte Auflage: 1994.

 

Diese Rezension ist erschienen im

 

Psychotherapie Forum Bd. 3, Heft 2, 1995, S. 113-114 (Springer Wien)

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Die SGST wurde 1988 als ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Psychotherapeuten und Psychotherapeut*innen aus den Fachgebieten Medizin, Psychologie, Pädagogik, Sozialarbeit und Sozialpädagogik gegründet. Später kam der Bereich Soziologie hinzu. Die SGST ist Gründungsmitglied der Systemischen Gesellschaft e.V. (Deutscher Verband für Systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung). Dieser 1993 gegründete Dachverband vereint Institute und Gesellschaften sowie zertifizierte Einzelpersonen, die systemisches Denken und Handeln nutzen, um Individuen und sozialen Systemen professionelle Hilfe und Problemlösungen anzubieten.

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