Editorial
Wohin man momentan auch blickt, wird man mit Krisen konfrontiert: Kriege und weitere drohende Auseinandersetzungen, Klimawandel und Umweltkatastrophen, Krankheiten, Kostensteigerungen, finanzielle Ängste und ein sinkender Zusammenhalt in der Gesellschaft. Allein die Aufzählung aller aktuellen Belastungen würde Seiten füllen.
Gleichzeitig wird der Takt des Lebens schneller und Momente der Sicherheit immer kurzlebiger. Wegwerfen und Austauschen statt Reparieren gilt mittlerweile beim Fernseher genauso wie in der Beziehung zu anderen Menschen. Was nicht gefällt wird schnell nach links geswiped, nur wer tausendfach »geliked« ist, schwimmt kurz oben auf einer Welle im stürmischen Gewässer. Freizeit- und Sportvereine klagen über immer weiter sinkenden Zusammenhalt und Einsatzbereitschaft. Arbeitnehmer kritisieren zu hohe Arbeitslast und zu niedrige Löhne, Arbeitgeber immer weniger belastbare und engagierte Mitarbeiter.
Allein bei den Berichten und Gesprächen über all diese Krisen und Probleme bekommt so mancher mittlerweile die Krise. Und jetzt beginnt auch noch dieses Editorial damit. Möglicherweise habe ich sie nun auch schon einigermaßen frustriert. Hätte ich stattdessen nicht einfach etwas Schönes schreiben können, um uns von all dem abzulenken?
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text wirklich so anfangen möchte, schließlich lehrt uns die systemische Sichtweise ja den Blick auf das Gute, das Funktionierende und die Ressourcen. Die Erfahrung rät uns aber auch, die Probleme der Menschen zu würdigen und nicht zu schnell darüber hinweg zu galoppieren.
Viele der aktuellen Entwicklungen erzeugen Unsicherheit bei den Menschen und wir tun gut daran, das zu berücksichtigen. Die Bindungsforschung geht davon aus, dass Unsicherheit zu Rückzug, eingeschränktem Neugierverhalten und zu einer Suche nach Regeln und Klarheit, also kurz zu einem Wiedererlangen von Sicherheit führt.
Hier schließt sich der Kreis, warum ich diesen Text genauso problemorientiert begonnen habe. Weder die systemische Arbeit noch die Bindungsorientierung empfehlen, die Augen vor den Schwierigkeiten und Belastungen zu verschließen, oder sie gar zugunsten eines rosaroten Blicks auf Gutes zu vernebeln. Der entscheidende Punkt ist, die Belastungen zu würdigen, aber anschließend nicht im Morast der Probleme stecken zu bleiben oder ganz darin zu versinken. Die systemische Arbeit sucht dabei nach kreativen Auswegen, Umdeutungen, neuen Sichtweisen und Haltungen und Bindungsarbeit beginnt genau da, wo Menschen an die Grenzen ihrer Komfortzone stoßen und sich dadurch emotional überfordert fühlen.
Ich persönlich halte die systemische Haltung zusammen mit der Bindungsorientierung aktuell für die zwei besten Pferde im Rennen gegen Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Gefühle von Überforderung. Sonst stünden sie wahrscheinlich auch nicht in meinem Stall der fachlichen Spezialisierungen.
Was nun konkret die systemische Haltung betrifft bin ich überzeugt, dass sie uns hierbei richtig viel zu bieten hat. Die systemische Sichtweise hilft, zu sortieren, was mir wirklich wichtig ist und zu entscheiden, wo es sich lohnt meine Ressourcen zu investieren. Im besten Falle macht mich das gleichzeitig resilienter bei zukünftigen Problemen.
Mit ›uns‹ meine ich dabei sowohl das bunte Feld der Fachleute in helfenden oder heilenden Berufen, als auch die Klienten, mit denen wir jeden Tag arbeiten.
Die SGST befindet sich derzeit außerdem in einem spannenden Prozess des Generationswechsels. Einige unserer erfahrenen Lehrtherapeuten reduzieren langsam und gleichzeitig wohlverdient ihr jährliches Arbeitspensum, und die nachkommenden Lehrtherapeuten wachsen in die neuen Rollen hinein. In diesem Übergang liegt die große Chance, das Gute, Gewachsene und Bewährte weiterzuführen und gleichzeitig neuen Impulsen, Modernisierungen und Veränderungen Raum zu geben.
Eine diese Veränderung war ja bereits im letzten Jahr die Umstellung auf ein rein digitales Programmheft, dass es in diesem Jahr aber auf vielfachen Wunsch zusätzlich auch noch einmal als PDF zum Download gibt, sodass man es sich ausdrucken und mit all seinen Sinnen durchblättern kann.
Auch weitere Veränderungen, wie eine Vereinfachung der curricularen Strukturen und generell neue Inhalte und Angebote stehen bereits in den Startboxen.
In diesem Zusammenhang will ich auf die spannenden neuen Selbsterfahrungsseminare hinweisen, die dieses Jahr zum ersten Mal angeboten werden und auf die noch weitere folgenden werden.
Wenn sich der anfängliche düstere Horizont nun am Ende dieses Textes ein wenig aufgeklärt hat, ist das gelungen, was idealerweise auch in einem typischen Arbeitsprozess stattfindet - das Problem weicht einer neuen Lösung, einer anderen Bewertung.
Ich wünsche Ihnen nun viel Freude und Inspiration bei der Lektüre des neuen Programmheftes und hoffe, dass Sie in unseren Angeboten wertvolle Anregungen für Ihre persönliche und berufliche Weiterentwicklung finden.
Sven Unkelbach
Nachruf auf Jerzy Jakubowski
Unser Editorial war geschrieben und das vorliegende Programmheft in der Endredaktion. Alles schien seinen vermeintlich selbstverständlichen Lauf zu nehmen, „business as usual“, als uns aus dem Nichts heraus die schockierende Nachricht über den Tod von Jerzy Jakubowski erreichte. „Unser“ Jerzy, der gefühlt unsterblich schien, war plötzlich an einem Herzstillstand gestorben. Keine Chance auf Verabschiedung, geschweige denn Vorbereitung. Er stand mit 84 Jahren noch Mitten im Leben und trotzte der Corona-Pandemie gerade mit seinen Online-Formaten so flexibel und innovativ, wie man es einem Mann seines Alters nie zutrauen würde. Einfach bewundernswert! Jerzy war auch nach all den Jahren systemischen Arbeitens nie müde geworden, diesen Ansatz immer wieder neu zu erfinden. Er begeisterte die Teilnehmer*innen seiner Seminare nicht nur mit den gelehrten Inhalten, sondern vor allem mit seiner Persönlichkeit. Mit der natürlichen Autorität eines Lehrtherapeuten und Menschen, der sich nicht in den Vordergrund spielen muss und keine Allüren nötig hat.
Immer noch sehr berührt von seinem Tod mischt sich in unsere Trauer eine Dankbarkeit, ihn erlebt haben zu dürfen. Vieles von ihm, dürfen wir uns zum Vorbild nehmen und bewahren. Insbesondere seine Leidenschaft für Lösungen und Schaffenskraft. Ebenso seine unkonventionelle, positive und vor allem durch Gelassenheit geprägte Haltung durch´s Leben zu gehen. Dieses Leben ist nun zu Ende gegangen und wir Lehrtherapeut*innen der SGST werden ihn sehr vermissen. Für uns ist der Gedanke tröstlich, dass er dem folgenden Zitat in Bezug auf sein eigenes Leben vermutlich mit einem verschmitzten Lächeln zugestimmt hätte:
„Man lebt nur einmal, aber wenn man es richtig macht, dann reicht es auch!“
(Verfasser unbekannt)
Christian Roland