Editorial
Editorial SGST Programm 2024/2025
Wohnt jedem Anfang ein Zauber inne?
Und ist er – der Anfang und der Zauber - gleichgültig oder gleichwertig?
Moritz Horvath (MH): Wir dachten uns für dieses Jahr, das Editorial im Tandem zu schreiben. Ich hospitiere gerade, um Lehrtherapeut zu werden, Irina Bayer hat mich in meiner Weiterbildung begleitet und jetzt schreiben wir zu zweit, die „Erfahrene“ und „der Neue“. Wow!
Irina Bayer (IB): Schön, dass Du beeindruckt bist ..., das ist auch eine Form von Irritation, also der Voraussetzung für Veränderung!
MH: Ich bin nicht der einzige Neue, die SGST verjüngt und vermehrt sich in diesen Jahren, ein für alle spannender Prozess. Mit meinen 46 Jahren bin ich nicht so wirklich neu, aber– im SGST-Teamkontext mit dem sehr traditionellen Teil der KollegInnen eben doch - die erste Paradoxie dieses Editorials.
Vielleicht sind Sie, liebe Editorial-Lesende, auch im Begriff, sich auf eine systemische Reise zu begeben, finden sich „neu“ in unserem Programm ein, aber eigentlich auch nicht, da Sie ja bereits einen Riesenpacken an Wissen und Erfahrungen mitbringen, ähnlich wie unsere Klientinnen. Vielleicht sind Sie aber wie ich auch hungrig nach neuen Sichtweisen, Optionen und Irritationen. Dahingehend hat mich die SGST nie enttäuscht. Im SGST-Betrieb herrscht Aufbruch und wir machen Zukunftswerkstätten und stellen uns gesellschaftlich neu auf, stellen uns einem sich bewegenden Markt. Herrlich, klingt nach Free Jazz („A Love Supreme“). Als Organisationspsychologe kenne ich aber auch, dass nach dem Forming das Storming folgt. Ich warte heimlich auf die Ansage: „Das haben wir schon immer so gemacht. Folgt also dem Taktstock.“
Liebe Irina, wie lange wohnt denn der Zauber inne, bis er verfliegt?
IB: Interessante Frage, ich könnte Dich zurückfragen, was sich für Dich ändern würde, wenn er verflogen ist? Aber wie in jedem neuen Systemwechsel wie z.B. einer beruflichen Veränderung oder einer neuen Familiensituation denke ich, dass die erste Zeit sehr dem Aufbau von Vertrauen und der Fürsorge für den Prozess gewidmet sein sollte, auf allen Seiten. Wir „Erfahrenen“ sind da genauso gespannt, wer kommt da alles Neues rein und wie passt alles zusammen, wie stellen wir etwas Neues her, was sich dann auch noch bewähren soll, i. S. v. Konstanz als Paradoxie zur Veränderung? Dabei dürfen und sollen wir Authentizität und Konflikt wagen, solange wir umgänglich und wohlwollend bleiben, dann darf und soll es auch mal anstrengend sein.
MH: Letztens habe ich von einem Naturpädagogen gelernt, dass Monokulturen selten großen Veränderungen standhalten, wie die Evolution bewiesen hat. Der Nährboden aus Ressourcen und Lösungen, auf denen Ideen, Erfahrungen und auch Freundschaften wachsen können, ist vielfältig.
IB: Ich bin sehr daran interessiert, welche Werte die nachfolgenden Generationen hochhalten und welches Innehalten und welche Bewegungen dadurch entstehen. Mir begegnen neue Lebens- oder Familienwerte, der neue Anspruch an eine ausgewogenere Life-Balance. In Deutschland darf nun gekifft werden, politische Rechtsrucke scheinen salonfähig, Klimawandel ist als Thema wohl nicht mehr so „in“, obwohl wir jeden Tag vor der eigenen Tür sehen, wie die Natur ums Überleben kämpft und wir alle wissen, dass wir nur diese eine Welt haben und für sie verantwortlich sind. Erscheint das alles nicht auch paradox? Dann erinnere ich mich an das Konzept des „Gegenparadoxon“ der Mailänder Schule um Palazzoli, Boscolo, Cecchin und Prata – Paradoxien sind nicht unbedingt widersprüchlich, sondern ein wunderbarer Motor für Innovation – Passt ja auch in unsere Zeit, findest Du nicht? Um auf Deine Frage zum Zauber des Anfangs zu kommen: Wir sind erstmal alle sehr erfreut und verzaubert (wohl auch eine Form der Irritation?) mit diesen Gegensätzen konfrontiert zu sein.
MH: Wenn alles gleichermaßen o.k. und auch irritierend ist, was ist dann unser gemeinsamer Kompass? Ist alles gleichwertig oder sogar im Wortsinn gleichgültig?
IB: Nein, es ist im Wandel. Wir sollten die Widersprüche bejahen anstatt uns auf die Suche nach Harmonie als der Illusion von einer Einheitsmeinung zu machen. Eine Kunst des Lebens ist ja auch, Widersprüche als Motor und nicht als Bremse zu betrachten, solange wir Entwicklung und nicht Stillstand spüren (Achtung: Lebensweisheit der Älteren!) Gleichwertigkeit sollten wir immer wieder aushandeln, gleichgültig werden wir nicht sein wollen. Besteht die Gefahr Fakten mit Meinungen und Bewertungen in postmoderner Beliebigkeit gleichzusetzen? Ist das legal, nützlich und vernünftig (Reminiszenz an Kants 300. Geburtstag in diesem Jahr)?
In unserem systemischen Tun begleiten wir Ratsuchende und helfen ihnen ihre Lösungsräume zu entdecken und zu gestalten, ja. Sollten wir aber einen Auftrag erhalten Ressourcen für die reine Durchsetzung des eigenen Instinktes zu stärken, zeigen wir ein deutliches „Nein“. Ansonsten wären wir gleichgültig.
MH: Du meinst, einen Autokraten sollte man nicht unterstützen, dass er ein herrlicher Systemsprenger ist und durchaus die Ressource besitzt, einfache Antworten zu bieten, sich durchzusetzen und zumindest Teilen des Volkes die Werte Bündnistreue zu geben? Scheint ja real immer häufiger vorzukommen!
IB: Vielleicht ist das der Punkt. Der Autokrat hat Antworten. Ich höre lieber auf Leute, die mich durch Fragen nachdenklich machen, als auf Leute, die mir einfache Antworten geben. Die gibt es in jeder Familie, jedem Team, und jedem System zu genüge.
MH: Wenn Sie, liebe Leserinnen, dieses Programm lesen, werden Sie hoffentlich wenige einfache Antworten finden, möglicherweise kommen Fragen auf ... Und manche Antwort werden Sie in unserem vielfältigen curricularen Angebot finden.
IB: Und dann fängt das wieder mit dem Zauber an?!
Irina und Moritz im Juli 2024
Kleiner Nachtrag: Für Kandidatinnen, die das SG-Zertifikat wünschen, müssen vier dokumentierte und supervidierte Fälle eingereicht werden – der gebührungspflichtige Zertifizierungsvorgang der Falldokumentationen durch SGST-Supervisorinnen wird als Supervisionseinheit angerechnet.
Nachruf auf Jerzy Jakubowski
Unser Editorial war geschrieben und das vorliegende Programmheft in der Endredaktion. Alles schien seinen vermeintlich selbstverständlichen Lauf zu nehmen, „business as usual“, als uns aus dem Nichts heraus die schockierende Nachricht über den Tod von Jerzy Jakubowski erreichte. „Unser“ Jerzy, der gefühlt unsterblich schien, war plötzlich an einem Herzstillstand gestorben. Keine Chance auf Verabschiedung, geschweige denn Vorbereitung. Er stand mit 84 Jahren noch Mitten im Leben und trotzte der Corona-Pandemie gerade mit seinen Online-Formaten so flexibel und innovativ, wie man es einem Mann seines Alters nie zutrauen würde. Einfach bewundernswert! Jerzy war auch nach all den Jahren systemischen Arbeitens nie müde geworden, diesen Ansatz immer wieder neu zu erfinden. Er begeisterte die Teilnehmer*innen seiner Seminare nicht nur mit den gelehrten Inhalten, sondern vor allem mit seiner Persönlichkeit. Mit der natürlichen Autorität eines Lehrtherapeuten und Menschen, der sich nicht in den Vordergrund spielen muss und keine Allüren nötig hat.
Immer noch sehr berührt von seinem Tod mischt sich in unsere Trauer eine Dankbarkeit, ihn erlebt haben zu dürfen. Vieles von ihm, dürfen wir uns zum Vorbild nehmen und bewahren. Insbesondere seine Leidenschaft für Lösungen und Schaffenskraft. Ebenso seine unkonventionelle, positive und vor allem durch Gelassenheit geprägte Haltung durch´s Leben zu gehen. Dieses Leben ist nun zu Ende gegangen und wir Lehrtherapeut*innen der SGST werden ihn sehr vermissen. Für uns ist der Gedanke tröstlich, dass er dem folgenden Zitat in Bezug auf sein eigenes Leben vermutlich mit einem verschmitzten Lächeln zugestimmt hätte:
„Man lebt nur einmal, aber wenn man es richtig macht, dann reicht es auch!“
(Verfasser unbekannt)
Christian Roland